In diesem Forschungsprojekt kooperieren Koreanistik, Japanologie, Sinologie und verschiedene historische Disziplinen mit dem Ziel, grundlegende Gemeinsamkeiten von Veränderungsdynamiken im Ostasien und Europa der Vormoderne zu erfassen. Dafür soll das von Soziolog*innen und Politolog*innen für die Gesellschaften der Gegenwart entwickelte Konzept der Eigendynamik an die Verhältnisse der Vormoderne angepasst werden. Als Ergebnis hoffen wir, eine theoretisch fundierte Beschreibung sozialen Wandels ausarbeiten zu können, die teleologische Narrative schon vom Ansatz her unterläuft. Der Grundlagenforschung verpflichtet, möchte das Projekt prozessuale Abläufe erfassen, um Strukturanalogien aufzuzeigen, die in kulturell unterschiedlichen Regionen in spezifischer Weise Veränderungen bewirkten. Einerseits ermöglicht es der theoretische Zugriff, die von vielen unterschiedlichen Kulturen geteilten Grundstrukturen vormoderne Veränderungsdynamiken zu aufzudecken. Andererseits erlaubt es der Ansatz, die lokal je unterschiedlichen Ausprägungen dieser Veränderungen in ihrer Verschiedenheit anzuerkennen, ohne Ähnlichkeiten postulieren zu müssten.
Drei Thesen wollen wir untersuchen: In den vormodernen Gesellschaften Ostasiens und Teilen Europas resultierten wesentliche Veränderungen, so die erste These, aus sich selbst tragenden Prozessen, aus Eigendynamiken. Diese Eigendynamiken, so die zweite These, basieren auf Strukturelementen, die den untersuchten Gesellschaften in der Zeit vor 1800 eigen waren. Drittens nehmen wir an, dass diese Eigendynamiken primär zur weiteren Ausfaltung vormoderner Strukturen führten, statt Entwicklungen zu einer Moderne voranzutreiben.
Was ist Eigendynamik? Was ist vormoderne Eigendynamik?
Soziale Prozesse können „dann als eigendynamisch [bezeichnet werden], wenn sie sich […] aus sich selbst heraus und ohne weitere externe Einwirkung weiterbewegen und dadurch ein für sie charakteristisches Muster produzieren und reproduzieren“, wie es Renate Mayntz und Birgitta Brigitte Nedelmann formulierten. Eigendynamik postuliert also die maßgeblichen Antriebe für Veränderungen aus den Prozessen selbst. Dabei motivieren Eigendynamiken die Akteure fortlaufend durch „wechselseitige Stimulierungskausalität“, so Wolfgang Knöbl,an solchen Prozessen mitzuwirken. Das Sich-Positionieren-Müssen in der Ständegesellschaft wäre etwa ein zeittypisches Beispiel für ein solches Motivieren, dem man sich kaum entziehen konnte.
Das für Gesellschaften der Gegenwart entwickelte Konzept bedarf der Anpassung an vormoderne Verhältnisse. In der Zeit vor 1800 lassen sich, so die These, für die hier untersuchten Gesellschaften drei Strukturelemente identifizieren, die Eigendynamik prägten: erstens eine ständisch-hierarchische Gesellschaftsordnung, zweitens Präsenzkultur, und drittens eine allgemeine Konsensorientierung. Die drei Elemente tauchen bisher in der Forschung zu Eigendynamik, da diese auf die Gegenwartsgesellschaft fixiert ist, nicht auf. In Arbeiten zur Vormoderne sind diese Strukturelemente für Ostasien und Europa intensiv untersucht worden. Jedoch gelten sie, anders als in diesem Vorhaben, oft als Ursache für die vermeintlich mangelnde Dynamik vormoderner Gesellschaften. Dies mag zutreffen, legt man Kriterien wie soziale Mobilität oder ökonomische Entwicklung an. Fragt man jedoch danach, was für die untersuchten Kulturen in ihrer Zeit selbst von Relevanz war, ergibt sich ein anderes Bild. Insofern betritt das Vorhaben Neuland, indem es durch die Verbindung mit einem neuen theoretischen Ansatz die Perspektive umkehrt: Mit der inneren Dynamik, die diese drei Strukturelemente aufweisen, wollen wir ihre für diese Gesellschaft eigene Funktionalität und Logik aufzeigen.
Wie hängen die drei Strukturelemente mit Eigendynamiken zusammen?
Ständische Hierarchie: Wir gehen davon aus, dass Einzelne ebenso wie Gruppen permanent herausgefordert waren, die eigene Position im ständisch-hierarchischen Gefüge zu behaupten und möglichst zu verbessern. Von teils gewaltsamen Auseinandersetzungen begleitet, mussten Positionierungen immer wieder neu ausgehandelt werden, führten zu neuen Regelwerken und veränderten das soziale Gefüge.
Die Eigendynamik speist sich hier aus der Spannung zwischen dem Ideal einer festen hierarchischen Ordnung, die von den untersuchten Gesellschaften als grundlegend für menschliches Zusammenleben betrachtet wurde, und der Offenheit in ihrer je tagesaktuellen Umsetzung.
Präsenzkultur: Die Kopräsenz der Akteur*innen im Raum machte die ‚tagesaktuelle‘ Kommunikation der Rangverhältnisse unumgänglich; oft wurden die divergierenden Auffassungen über die eigene Position erst bei Zusammentreffen sichtbar. Konflikte waren vorprogrammiert, da die Wahrnehmung von Kleidung und Körper sowie die Platzierung im Raum letztlich schwer auszutarieren waren. Veränderungen schlugen sich dabei u. a. in der Weiterentwicklung und dem Ausbau des Repertoires an Kommunikationsweisen nieder. Die elaborierte Schriftlichkeit, die in allen im Vorhaben betrachteten Weltregionen von Bedeutung ist, steht zur Präsenzkultur nicht im Widerspruch, sondern in einem produktiven Wechselverhältnis.
Das Vorhaben stellt die damit einhergehenden und bisher kaum systematisch untersuchten Veränderungsdynamiken in den Mittelpunkt, die unter den genannten Bedingungen schon in den Zusammenkünften selbst angelegt waren und laufende Fortsetzungen erfuhren.
Konsensorientierung: Konsensorientierung definiert sich für die betrachteten Gesellschaften als geringe Toleranz für abweichende Positionen; Dissens konnte kaum Legitimität für sich beanspruchen. Es meint also nicht eine romantisierende Vorstellung über ‚das‘ Mittelalter oder eine vermeintlich harmonieaffine ostasiatische Mentalität. Streit und gewaltsame Konflikte waren allgegenwärtig; sie müssen jedoch vor dem normativen Charakter, den Einmütigkeit in den hier beobachteten Gesellschaften gewinnt, interpretiert werden. Der Streit, in dem schon Simmel einen Antrieb für Veränderung sah, gewinnt im Rahmen einer allgemeinen Konsensorientierung noch einmal eine ganz eigene Dynamik.
So gesehen verhindert Konsensorientierung die zu Eigendynamik neigenden Konflikte nicht; sie trieb sie eher voran, verschärfte sie und zwang ihnen eine bestimmte Form auf.
Einzeln waren die drei Strukturelemente bereits häufig Gegenstand der Forschung. Neu ist, sie als zentrale Antriebe für Veränderungen zu identifizieren und mit Eigendynamik zu verknüpfen. Wir vermuten, dass diese drei Elemente die Akteure zur ‚Mitarbeit‘ zu motivieren vermochten. So entstanden neue Erzählungen über das eigene Herkommen, wurden Netzwerke aufgebaut oder in Kunst und Literatur investiert. Diese Innovationen hebelten die bestehenden Strukturen nicht aus, sondern stützten sie, so dass die Antriebe für Eigendynamik weiter fortbestanden.
Konsequenzen
Das Vorhaben möchte zu einem Perspektivwechsel anregen: Weniger eine über Jahrhunderte auf die Gegenwart zulaufende Entwicklung ist zu konstatieren. Vielmehr scheinen, zumindest für die untersuchten Regionen, ähnliche Antriebe für Veränderungen feststellbar, die diese Zeit und diese Regionen als hoch dynamisch aufzeigen; jedoch richtete sich diese Dynamik primär auf den weiteren Ausbau der Strukturen dieser Gesellschaften. Als Ausblick, und über das Vorhaben hinausgehend ließe sich dann ein relativ rascher Wandel im ‚langen 19. Jahrhundert‘ hin zur Gesellschaft der Gegenwart annehmen, der mehr mit Emergenz als mit langfristiger Entwicklung in Verbindung zu bringen wäre.
Das Herausarbeiten solcher, der historischen Grundlagenforschung verpflichteten, abstrakten Beschreibungen für Veränderungsprozesse hat zugleich wichtige politische Implikationen. Denn wenn die Bedeutung von Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Antriebe für Veränderungen festgestellt werden kann, lassen sich essentialistische sino-, euro- oder japanozentristische Narrative kaum noch halten.
Prof. Dr. Franz-Josef Arlinghaus
Universität Bielefeld
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie
Prof. Dr. Marion Eggert
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Ostasienwissenschaften
Sektion Sprache und Kultur Koreas
Prof. Dr. Ulla Kypta
Universität Hamburg
Mittelalterliche Geschichte
Prof. Dr. Jörg Quenzer
Universität Hamburg
Fakultät für Geisteswissenschaften
Asien-Afrika-Institut