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Linguistische Differentialtypologie - Gesprächsleitfaden

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Linguistische Differentialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen: Diagnostische und therapeutische Aspekte.

Der Gesprächsleitfaden

Als Hilfsmittel für die ärztliche Gesprächsführung wurde im Projekt ein Gesprächsleitfaden entwickelt und eingesetzt. Er bindet die Anamnese-Erfordernisse ein in ein vergleichsermöglichendes offenes Frageraster.

Im Klinikalltag hat sich dieser Leitfragen bewährt. Da aus verschiedenen medizinischen und therapeutischen Kontexten mittlerweile Interesse daran geäußert wurde, ist er an dieser Stelle in voller Länge nachzulesen.

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I. Vorüberlegungen

Zu Beginn wurden die Gespräche zwischen ÄrztInnen/TherapeutInnen und PatientInnen so aufgenommen, wie sie in der medizinischen Praxis "natürlich" entstanden. So waren sie recht unterschiedlich z.B. im Hinblick darauf, wann und wie im Gesprächsverlauf das Anfallsgeschehen thematisiert wurde, welche Möglichkeiten die PatientInnen überhaupt hatten, um bestimmte Aspekte in eigener Initiative anzusprechen etc. 

Um eine größere Homogenität der Gespräche und damit eine höhere Vergleichbarkeit zu erzielen, wurde ein Leitfaden für den am Gespräch beteiligten Arzt entwickelt, der bei den längeren Erstgesprächen in der Ambulanz und/oder auf der Station zur Anwendung kommen soll.

Der Leitfaden enthält inhaltliche und technische Vorgaben, die dem Arzt Richtlinien für die im Gespräch zu behandelnden Themen, die ungefähre Dauer des Gesprächs und der einzelnen Gesprächsphasen sowie für sein Gesprächsverhalten geben. 

Der Leitfaden orientiert sich an den bisherigen Analysen zahlreicher Gespräche; ihm liegen die Beobachtungen über Unterschiede zwischen den PatientInnen in Gesprächsverhalten, Darstellungs- und Formulierungsmustern und Hypothesen darüber, was eventuell wichtig (d.h. differentialdiagnostisch relevant) sein könnte, zugrunde. Er zielt in erster Linie darauf ab, durch den Gesprächsverlauf vergleichbare Interaktionsbedingungen für die PatientInnen zu schaffen, um Zugang zu deren eigenen Relevanzsetzungen, ihren spontan bevorzugten Darstellungsmitteln und ihren Auffassungen z.B. über Bearbeitungsbedürftigkeit dargestellter Sachverhalte zu erlangen.

Der Gesprächsverlauf soll z.B. sichtbar werden lassen,

  • welche Anliegen die PatientInnen selbst im Gespräch haben, angeben, verfolgen,
  • ob, wann und in welcher Weise sie auf ihre Anfälle zu sprechen kommen, welche Aspekte sie daraus thematisieren und welche Akzente sie setzen;
  • welche Darstellungs- und Formulierungsmittel sie wählen, um das Anfallsgeschehen zu beschreiben (deskriptiv, narrativ, iterativ);
  • wieweit sie selbst ihre Darstellungen als bearbeitungsbedürftig behandeln (selbstinitiierte Bearbeitungen);
  • ob und wie sie das Anfallsgeschehen bewerten.

Wichtig ist, daß trotz der Vorgaben zur "Standardisierung" das Gespräch nicht extra für unsere Forschungszwecke geführt wird, sondern ein "normales" Anamnese-Gespräch als Bestandteil des Klinikalltags ist. Die Vorgaben zur Gesprächsführung müssen also so beschaffen sein, daß sie unseren Erkenntnisinteressen entgegenkommen, ohne die medizinischen Interessen außer Kraft zu setzen, zu behindern oder zu mißachten.

Das bedeutet insbesondere, daß die Inhalte des Gesprächs die sind, welche in den Arzt-Patient-Gesprächen in diesem Kontext ohnehin vorkommen sollen (oder können), weil sie für die Anamnese und Diagnose wichtig sind. Der Leitfaden bezieht sich eher auf Aspekte wie die Reihenfolge der Themen, die Form ihrer Einführung etc.

Auch hinsichtlich konkreter Mittel der Gesprächsstrukturierung und Formen von Interventionen greifen wir soweit wie möglich auf Äußerungen des ärztlichen Gesprächsteilnehmers zurück, die in den "ungesteuerten" Gesprächen auffindbar sind, um die natürlich-professionelle Kompetenz soweit wie möglich zu nutzen. So beziehen wir beispielsweise konkrete Formulierungen von Aufforderungen, Rückmeldungen und dergleichen, die sich in früheren Gesprächen mehrfach als fruchtbar und effektiv erwiesen haben, in die Leitfaden-Richtlinien ein.

Es versteht sich, daß es weder möglich noch wünschenswert ist, "starre" Gesprächsvorgaben zu machen. In jedem Fall ist sicherzustellen, daß das Gespräch "natürlich wachsen" und sich entwickeln kann. Die Vorgaben bilden eher Richtlinien für das Verhalten, die flexibel und sensibel anzuwenden sind; so geben beispielsweise auch Formulierungsvorschläge eher ein Prinzip und eine Richtung vor als eine in jedem Fall einzuhaltende Form.

Der Leitfaden wird im Rahmen der weiteren Analysen der Gespräche, in denen er angewendet wurde und wird, kontinuierlich mitreflektiert, um die Gesprächsführung z.B. Fragetechniken, Plazierungen bestimmter Interventionen, Rückmeldeformen etc. zu checken, zu überdenken und ggf. zu optimieren.

II. Der Leitfaden

Der Leitfaden sieht im Gesprächsverlauf folgende thematische Phasen vor:

  1. Offene Phase
  2. Anfallsbeschreibung
  3. Fokussierung einzelner Anfallsereignisse
  4. Erfragen bestimmter Anfallsaspekte: Vorgefühle, Bewußtseinslücke
  5. Ärztlich-epileptologische Exploration00

Diese Phasen müssen nicht notwendig in der hier vorgestellten Reihenfolge abgearbeitet werden Die Auflistung gibt die Themen vor, die im Verlauf des Gesprächs in jedem Fall vorkommen sollen; die Reihenfolge ist idealtypisch und gibt eine Leitlinie, an der der Arzt sich orientieren kann, sofern die entsprechenden Themen und Aspekte nicht bereits durch spontane Thematisierung seitens der PatientInnen aufgekommen sind.

III. Erläuterungen:

1. Offene Phase

Unsere primär die Selbstwahrnehmung der PatientInnen fokussierende Untersuchungshaltung erfordert es, den PatientInnen zumindest phasenweise die Führung des Gesprächs zu überlassen und sie dabei möglichst wenig durch thematisch lenkende Einwürfe oder Fragen in der Darstellung dessen, was ihnen wichtig ist, zu unterbrechen. Die PatientInnen sollen hier Gelegenheit erhalten, ihre eigenen bevorzugten Inhalte und Mittel von Mitteilungen einzubringen. Dies sollte sinnvollerweise die erste Phase des Gesprächs bilden. Hier geht es also darum, die Initiative an die PatientInnen zu delegieren und ihnen die Verantwortung für den Gesprächsverlauf zu übertragen.

Zur Einleitung empfiehlt sich entsprechend eine möglichst offene Anregung. Als geeignet erscheint hier, unter Bezugnahme auf die aktuelle Situation ungerichtet nach den Erwartungen an das Gespräch zu fragen, etwa mit Formulierungen folgender Art:

  • Sie haben ja jetzt eine weite Reise hinter sich ... 
  • Sie haben ja nun x Monate auf die Aufnahme warten müssen ...
  • Nun sind Sie ja schon seit x Tagen hier ...
  • ... was erwarten/erhoffen Sie sich denn von diesem Gespräch?"

Sobald in dieser Phase die PatientInnen aufhören, sich mitzuteilen, stellt sich die Frage nach dem Umgang mit solchen Pausen. In jedem Fall muß vermieden werden, die Stille allzu schnell als Zeichen dafür zu werten, daß die PatientInnen nichts mehr zu sagen haben; es wäre ebenso denkbar, daß sie unsicher sind, ob sie noch "dran" sind. Auf jeden Fall soll ihnen zunächst wenigstens die Möglichkeit gegeben werden, das Rederecht weiterhin in Anspruch zu nehmen.

Eine Möglichkeit dazu ist, auf die Pause oder das Schweigen lediglich mit einem Rezeptionssignal zu reagieren - also in minimaler Form die jeweilige ZuhörerInnen- bzw. SprecherInnen-Rolle zu bestätigen und zum Ausdruck zu bringen: "Ich höre weiter zu; wenn Du willst, kannst Du weitersprechen."

Eine andere Möglichkeit besteht darin, einen Teil - den letzten, einen zentralen o.ä. - der vorausgegangenen Äußerungen der GesprächspartnerIn wieder aufzunehmen. Dies stellt natürlich einen stärkeren Eingriff dar als ein einfaches Rezeptionssignal. Es ist aber in vielen Gesprächen sichtbar, daß eine solche Intervention die GesprächspartnerInnen nicht notwendigerweise inhaltlich leitet, wenn sie daraufhin weitersprechen; vielmehr scheint sie in erster Linie als "continuer" zu funktionieren. Insofern sollte aber in solchen Interventionen der eigene Anteil möglichst gering gehalten werden; z.B. sollte eher rephrasiert als paraphrasiert werden, die Intonationskontur sollte nicht fragend sein, Unverständnis signalisieren o.ä., sondern möglichst wenig suggestiv sein. Welcher Teil der vorangegangenen Äußerungen aufgenommen werden sollte, läßt sich nicht ohne weiteres formal bestimmen. Hier ist Intuition und Fingerspitzengefühl gefragt.

Schließlich ist auch denkbar, die Stille selbst zu thematisieren und die damit verbundene Frage explizit zu machen: "Ich weiß jetzt nicht, möchten Sie noch etwas sagen und denken nur nach, oder haben sie erstmal alles für Sie Wichtige gesagt?"

Wenn die PatientInnen im Verlauf dieser Phase ihre Anfälle thematisieren und zu deren Beschreibung übergehen, schließt sich "natürlich" die zweite Gesprächsphase an. Bleibt dies innerhalb eines Zeitrahmens von etwa 10 Minuten aus, leitet der Arzt in die zweite Phase über, indem er seinerseits die Anfälle thematisiert.

Die Übernahme der Gesprächsstrukturierung durch den Arzt kann auch vor Ablauf dieser Zeitspanne notwendig werden, wenn das Gegenüber trotz mehrfacher entsprechender Angebote nicht dazu zu bewegen ist, im Gespräch die Initiative zu übernehmen.

2. Anfallsbeschreibung

In dieser Phase soll nach den Anfällen selbst gefragt werden - sofern die PatientIn nicht von selbst spontan und ausführlich darüber spricht. Beim Fragen sollten grundsätzlich immer so wenig konkrete Vorgaben wie möglich gemacht werden, um den PatientInnen möglichst viel Freiheit zu lassen.

Die Thematisierung der Anfälle durch den Arzt kann sich nach dem Geschehen in der ersten Phase richten und beispielsweise lauten: "Sie haben ja nun noch gar nicht über Ihre Anfälle gesprochen" respektive "Sie haben ja eben schon kurz Ihre Anfälle erwähnt" o.ä.; je nach Situation, beispielsweise wenn das Gegenüber beständig neue andere Aspekte anspricht, muß ggf. auch unterbrochen werden: "Können wir vielleicht, bevor wir darauf eingehen, doch nochmal auf die Anfälle zurückkommen?"

Zuweilen genügt so eine minimale Thematisierung, um die GesprächspartnerInnen zur Übernahme des Turns und eigenen Ausführung zu animieren. Sofern dies nicht ausreicht, muß eine explizitere Aufforderung ausgesprochen werden; diese soll so offen formuliert sein und so wenig inhaltliche und/oder strukturelle Vorgaben machen, daß sie der PatientIn ermöglicht, über einen beliebigen Aspekt des Anfallsgeschehens (Anfallsgeschichte, ein spezielles Ereignis, Symptome, ...) zu sprechen und dabei deskriptiv, narrativ, generalisierend, rekapitulierend oder sonstwie zu antworten. Eine mögliche Formulierung dazu ist: "Was wissen Sie denn von Ihren Anfällen?"

Erst wenn konkrete Anfallsbeschreibungen im engeren Sinne über längere Zeit ausbleiben, sollte eine Aufforderung ergehen, die eindeutigere Vorgaben in eine gewünschte Richtung machen, etwa: "Beschreiben Sie doch mal, wie so ein Anfall abläuft."

3. Fokussierung einzelner Anfallsereignisse

Um die Fokussierbarkeit oder vielleicht auch die Fokussierungsresistenz der PatientInnen zu klären, soll im weiteren nach einzelnen Anfallsereignissen gefragt werden, insbesondere nach dem letzten Anfall, dem allerersten, dem letzten erinnerlichen und schließlich auch nach einem aus irgendwelchen Gründen besonders eindrücklichen Anfallserlebnis. Gegebenenfalls kann auf Ereignisse zurückgekommen und nach diesen gefragt werden, die die PatientInnen im Verlauf des Gesprächs (möglicherweise nur en passant) angesprochen oder auf welche sie verwiesen haben.

Nach konkreten Ereignissen sollte in jedem Fall gefragt werden, auch dann, wenn die PatientInnen bereits früher im Gespräch solche Ereignisse selbstinitiiert geschildert oder erzählt haben. So lassen sich z.B. mögliche Unterschiede in der Erinnerbarkeit verschiedener konkreter Ereignisse feststellen. Fokussierungsresistenz wird als solche akzeptiert. Der ärztliche Gesprächspartner insistiert nicht.

4. Erfragen bestimmter Anfallsaspekte: Vorgefühle, Bewußtseinslücke

In dieser Phase werden bestimmte Aspekte des Anfallsgeschehens und erlebens gezielt nachgefragt; insbesondere soll hier nach eventuellen Vorgefühlen und nach erlebter Einschränkung der Selbstverfügbarkeit bzw. Bewußtseinslücken im Anfall gefragt werden. Die Gestaltung dieser Gesprächsphase ist abhängig von dem, was im Verlauf der vorhergehenden Gesprächsphasen in welcher Ausführlichkeit zur Sprache gekommen ist.

Im Hinblick auf Vorgefühle hat sich gezeigt, daß PatientInnen mitunter zwar auf direkte Befragung hin verneinen, im Kontext ihrer Anfälle irgendwelche subjektiven Wahrnehmungen zu haben, auf den Hinweis, jeder Patient bekomme im Rahmen seiner Anfälle mindestens ausnahmsweise irgendetwas mit, jedoch durchaus etwas zu berichten haben. Insofern erscheinen entgegen den sonst eher vorsichtig leitenden Fragen des Arztes in dieser Phase entsprechend suggestive Fragen durchaus sinnvoll. 

Anmerkung: Die Begriffe "Vorgefühl" oder "Aura" sollten mit Vorsicht gehandhabt werden; es hat sich häufiger gezeigt, daß die PatientInnen damit etwas anderes assoziieren als der Arzt. (So verneinten manche PatientInnen auf die direkte Frage hin die Existenz von Vorgefühlen, schilderten aber später im Gespräch entsprechende Wahrnehmungen.) Geeigneter erscheint eine Umschreibung des Typs "Was merken Sie, wenn so ein Anfall losgeht?".

5. Ärztlich-epileptologische Exploration

In der Regel am günstigsten gegen Ende des Interviews sollte die übliche ärztlich-epileptologische Exploration erfolgen, die neben Fragen zur Qualität z.B. von Vorgefühlen insbesondere auch Aspekte etwa der tageszeitlichen Bindung, der Seitigkeit, eines eventuellen Marchs, des halluzinatorischen bzw. pseudohalluzinatorischen Charakters bestimmter Wahrnehmungen einschließen sollte.

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