Eine Täterin/Ein Täter wird verurteilt, wenn das Gericht davon überzeugt ist, dass er/sie die Tat begangen hat. Diese Überzeugung gewinnt das Gericht maßgeblich aus den zur Verfügung stehenden Beweisen, ganz besonders aus ZeugInnenaussagen. Leider vergehen zwischen der Tat und dem Prozess oft mehrere Monate, die Erinnerung schwindet, Aussagen werden unbewusst durch vorangegangene Vernehmungen, die Einsichtnahme in Akten, Gesprächen mit Familienmitgliedern, TherapeutInnen und Beratungsstellen in Mitleidenschaft gezogen, oder in sonstiger Weise beeinflusst. Der Mensch ist als Aussagesubjekt von Natur aus kein besonders zuverlässiges Beweismittel.
In einigen Fällen kommt es daher dazu, dass das Gericht eine Gutachterin/einen Gutachter bestellt, der anhand Ihrer Aussage überprüft, ob sie auf tatsächlichen Erlebnissen und nicht auf falschen (Schein-) Erinnerungen beruht. Wenn das geschieht, dann geht es in den allerseltensten Fällen darum, dass man Sie der Lüge bezichtigt. Vielmehr möchte man die Qualität der Aussage als Beweismittel sicherstellen, auf deren Grundlage immerhin jemand verurteilt werden soll. Das ist ein in bestimmten Fällen (s. sogleich) übliches Verfahren, zu dem die Richterin/der Richter in Grenzen sogar verpflichtet ist und hat mit persönlichem Misstrauen wenig zu tun. Die GutachterInnen selbst sind im Regelfall geschulte PsychologInnen. Manchmal, wenn eine Erkrankung zugrunde liegt, können auch PsychiaterInnen, d.h. MedizinerInnen, als GutachterInnen hinzugezogen werden.
Ob ein Gutachterin/ein Gutachter herbeigezogen wird, oder der Prozess ohne einen auskommt, liegt in weiten Teilen im Ermessen des Gerichts. Die Bestellung einer Gutachterin/eines Gutachters ist allgemein eher die Ausnahme denn die Regel. Es gibt jedoch einige Fälle, in denen es immer wieder zu der Bestellung einer Gutachterin/eines Gutachters kommt und sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehrt:
Dagegen wird nicht schon dann automatisch eine Gutachterin/ein Gutachter erforderlich, wenn für Sie ein gesetzliche Betreuerin/gesetzlicher Betreuer bestellt ist.
Die Begutachtung betrifft unterschiedliche Fragestellungen, die oft fließend ineinander übergehen und nebeneinander geprüft werden, nämlich:
Eine Glaubhaftigkeitsbegutachtung geht im Ausgangspunkt von der fehlenden Erlebnisgrundlage Ihrer Aussage aus. Auch damit ist kein persönlicher Vorwurf an Sie verbunden, sondern hängt mit wichtigen Grundsätzen des deutschen Strafprozesses zusammen:
Ein Gutachter/ eine Gutachterin wird immer dann vom Gericht bestellt, wenn der Beweiswert einer Aussage aus bestimmten Gründen zweifelhaft erscheint. „Zweifel“ wirken aber im deutschen Strafprozess wegen der Vermutung der Unschuld bis zum Beweis der Schuld durch das Urteil stets zugunsten des Angeklagten/ der Angeklagten („Im Zweifel für den Angeklagten“), der/ die immerhin auch zu Unrecht angeklagt sein kann, sodass positiv zur Überzeugung des Gerichts festgestellt werden muss, dass Ihre Aussage als Beweismittel trotz vorhandener Zweifel tauglich ist, um auf ihr eine Verurteilung zu stützen. Die umgekehrte Betrachtung, nämlich, dass eine im Beweiswert zweifelhafte Aussage grundsätzlich geeignet ist, eine Verurteilung maßgeblich auf sie zu stützen, wäre nur schwer mit der Unschuldsvermutung zu vereinbaren. Sie sehen: Dass Ihnen (methodisch!) zunächst unterstellt wird, dass Ihre Aussage nicht auf tatsächlichen Erlebnissen beruht, hängt mit dem deutschen Strafverfahrensrecht zusammen.
In der Gutachterpraxis hat sich eine Beurteilung des Erlebnisgehalts von Aussagen anhand von „Glaubhaftigkeitsmerkmalen“ etabliert. Je mehr Glaubhaftigkeitsmerkmale vorliegen und je höher ihre Aussagekraft im Einzelfall vom Begutachtenden und dem Gericht bewertet wird, desto glaubhafter erscheint Ihre Aussage. Ergibt die Gesamtschau, dass die Aussage glaubhaft ist, so ist die anfängliche Vermutung der fehlenden Erlebnisgrundlage widerlegt, andernfalls bleibt es dabei, dass die Aussage als nicht erlebnisbasiert betrachtet wird. Als wichtige Merkmale gelten etwa die Widerspruchsfreiheit Ihrer Aussage, ihre Übereinstimmung mit vorangegangenen Aussagen, ihr Detailreichtum, das Vorhandensein ungewöhnlicher und origineller Details sowie die ausführliche Wiedergabe von wörtlicher Rede und dem eigenen Empfinden. (Den vollständigen Katalog finden Sie im Anhang).
Dieser Katalog hilft allerdings nur im Bereich bewusster Falschaussagen weiter, da nur in diesen Fällen überhaupt feststellbare Qualitätsunterschiede bestehen.
Wer irrtümlich glaubt, etwas erlebt zu haben, das er/ sie in Wahrheit nicht erlebt hat, weist im Regelfall keinen Unterschied in der Aussagequalität zu jemandem auf, der ohne Irrtum und erlebnisbasiert aussagt, weil er keine zusätzliche Leistung zur Schaffung, Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Lüge zu erbringen hat. Bei unbewusster Beeinflussung liegt der Fokus vielmehr darin, die konkrete Entstehung Ihrer Aussage von der Wahrnehmung des Tatgeschehens bis hin zur Wiedergabe vor Gericht im Einzelnen nachzuvollziehen. Sie werden daher etwa ausführlich dazu befragt werden, mit wem Sie wann worüber gesprochen haben. Ist eine Beeinflussung feststellbar, wird dies nicht selten zur Unglaubhaftigkeit und Unverwertbarkeit Ihrer Aussage führen, es sei denn, dass sich die verzerrten Erinnerungsstücke klar vom Rest der Aussage abgrenzen lassen.
Die Begutachtung bezieht sich nicht auf Ihre Körpersprache und ihr Auftreten in der Hauptverhandlung. Wenn Sie also Aufregung ausstrahlen, unruhig und nervös wirken, ist das überhaupt nicht schlimm, denn für die meisten Menschen ist eine Aussage vor Gericht ungewohnt und nicht selten belastend, was sowohl dem Gericht als auch den Gutachtern bestens bekannt ist.
Es ist ganz normal, dass Sie sich nach längerer Zeit nicht an alle Einzelheiten der Tat erinnern können, ihre Aussage stockend vorbringen und/oder in verkehrter Reihenfolge berichten. Versuchen Sie, sich so gut wie möglich an den Tathergang zu erinnern. Manchmal wird das Gericht Ihnen Aussagen vorlesen, die Sie bei der Polizei gemacht haben und so nicht in der Gerichtsverhandlung erzählen. Dies wird als „Vorhalt“ bezeichnet, hat aber nichts mit dem Begriff „Vorwurf“ zu tun. Wenn Sie sich an etwas nicht erinnern können, teilen Sie das dem Gericht mit.
Bewertet wird, außer in Ausnahmefällen, in denen bestimmte Persönlichkeitsstörungen zu Verfälschungen führen können, auch nicht Ihre Persönlichkeit im Sinne Ihres „Charakters“. Es geht insbesondere nicht darum, herauszufinden, ob Sie ein grundsätzlich guter oder ehrlicher Mensch sind. Die Begutachtung erfolgt vor allem anhand einer konkreten Aussage, nicht anhand Ihrer Person, auch wenn in Randbereichen – wie verstärkt bei der Aussagetüchtigkeit – personenbezogene Umstände eine Rolle spielen können.
Lässt sich vor dem Hintergrund der Glaubhaftigkeitsbegutachtung die ZeugInnenaussage nicht mit der Maßgabe aufrechterhalten, dass diese über einen realen Erlebnisbezug verfüge, oder ließe sie sich auch als das Produkt autosuggestiver Prozesse erklären, so bedeutet dies im Ergebnis, dass die Belastungsaussage jedenfalls in aussagepsychologischer Hinsicht nicht glaubhaft ist. Das schmälert den Beweiswert der Aussage erheblich und kann dazu führen, dass sie nicht oder nur sehr eingeschränkt im Verfahren berücksichtigt wird. Wenn andere Beweismittel nicht zur Verfügung stehen und die RichterInnen daher keine Überzeugung von der Schuld des Täters/der Täterin bilden können, ist er/ sie freizusprechen.
Nein, denn mit der Gutachtenbeauftragung ist, wie gesagt, selten ein persönlicher Vorwurf an Sie verbunden. Alleine daraus, dass das Gericht ein Gutachten über die Glaubhaftigkeit einer Aussage einholt, folgt nichts. Strafrechtliche Konsequenzen haben Sie nur dann zu befürchten, wenn Sie bewusst die Unwahrheit vor Gericht sagen, oder aber bei einer Vernehmung unter Eid falsch aussagen, obwohl Sie unter den gegebenen Umständen die Wahrheit hätten sagen können. Darüber werden Sie vom Gericht belehrt.
Aussagepsychologische Gutachten werden gelegentlich schon vor der gerichtlichen Verhandlung während der Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft eingeholt. Praktisch läuft dies im Regelfall so, dass der/die bestellte Sachverständige mehrere Gespräche mit Ihnen in seinen Örtlichkeiten oder bei Ihnen Zuhause führt, in denen er versucht, die notwendigen Informationen für das o.g. methodische Vorgehen in Erfahrung zu bringen. Je nach Fallgestaltung kann es sein, dass er auch mit Personen aus Ihrem Umfeld (z.B. Ihrem Partner/Ihrer Partnerin, Verwandten, ÄrztInnen nach Entbindung von der Schweigepflicht, etc.) spricht, auf Gerichts- und Patientenakten zurückgreift, oder zur Beurteilung der Aussagetüchtigkeit Persönlichkeits- und Intelligenztests durchführt. In seltenen Fällen kann darüber hinaus eine körperliche Untersuchung erforderlich werden. Es besteht bei vielen GutachterInnen die Möglichkeit, dass eine Vertrauensperson der Begutachtung beiwohnen kann, wenn sichergestellt ist, dass sich Ihr Aussageverhalten durch deren Anwesenheit nicht verändert und ein störungsfreies Gespräch gewährleistet werden kann. Es kann Sie auch eine psychosoziale Prozessbegleitung unterstützen.
Eine Untersuchung in der genannten Weise ist dazu grundsätzlich vollkommen freiwillig – Sie müssen ihr ausdrücklich zustimmen, damit sie stattfinden kann. Stimmen Sie einer Untersuchung Ihrer Aussage nicht zu und verweigern das Gespräch, so bleibt dem Gutachter/der Gutachterin trotzdem die Möglichkeit, sich Ihr Aussageverhalten vor Gericht in der Hauptverhandlung anzuschauen und zu würdigen sowie auf die Prozessakten zurückzugreifen, denn zur Aussage vor Gericht sind Sie als ZeugIn grundsätzlich verpflichtet. In dem Fall stützt sich die Begutachtung auf diese Informationen. Die Gutachtenverlesung vor Gericht oder die Vernehmung der GutachterIn findet öffentlich statt, sofern die Öffentlichkeit nicht (z.B. aus Gründen des Zeugenschutzes bei Sexualstraftaten oder jungen OpferzeugInnen) ausgeschlossen ist. Das gilt auch dann, wenn die Begutachtung überwiegend vor dem Hauptverfahren erfolgte.
Wie viel Zeit eine aussagepsychologische Begutachtung in Anspruch nimmt, ist vom konkreten Fall abhängig und kann nicht pauschal beantwortet werden. Da die Begutachtung regelmäßig parallel zum laufenden Verfahren stattfindet, sind größere Verfahrensverzögerungen speziell durch die Glaubhaftigkeitsbegutachtung unwahrscheinlich.