Ob ein Strafverfahren zur Verurteilung führt, hängt wegen der Unschuldsvermutung entscheidend davon ab, ob genügend Beweise vorliegen, damit das Gericht am Ende des Verfahrens von der Strafbarkeit des Täters / der Täterin überzeugt ist. Ist es das nicht, spricht es den Täter / die Täterin frei. Gerade (aber nicht nur) in Fällen der sexualisierten Gewalt sind Spuren der Tat oft nicht mehr sicherzustellen und es bleibt nur noch die - meist bestrittene - Aussage des / der Betroffenen. Ein Grund für diesen Beweismangel ist, dass Betroffene häufig erst verspätet oder überhaupt nicht Anzeige erstatten und vorhandene Beweise dadurch unwiederbringlich verloren gehen.
Möchte jemand unmittelbar nach der Tat (noch) keine Anzeige erstatten, ist das angesichts des extremen Ausnahmezustands nachvollziehbar. Um Beweisverlust zu verhindern, gibt es allerdings die Möglichkeit, anzeigenunabhängig Spuren zu sichern. Das bedeutet, dass geschulte Ärzte Spuren an und in Ihrem Körper sowie Ihrer Kleidung feststellen und aufbewahren, ohne dabei die Polizei zu informieren. Die Spurensicherung wird streng vertraulich behandelt. Die Ärztinnen und Ärzte unterliegen der Schweigepflicht und werden die Proben nicht eigenmächtig weitergeben: Sie alleine entscheiden, ob jemand und wer sie erhält. Unter Umständen ist je nach Klinikum auch eine zumindest weitgehend anonyme Spurensicherung möglich. Eine vollständig anonyme Spurensicherung ist dagegen nicht möglich, was aber nicht bedeutet, dass die Materialien nicht vertraulich behandelt werden. All das ermöglicht es, in Ruhe über eine Anzeige zu entscheiden, ohne dass Beweismittel wegen der verstrichenen Zeit verloren gehen. Eine Ausnahme von der Vertraulichkeit besteht nur für minderjährige Betroffene unter 14 Jahren, da in diesem Fall die Ärzte angehalten sind, die Eltern zu informieren.
Für eine anzeigenunabhängige Spurensicherung (ASS) ist erforderlich, dass der / die Betroffene möglichst zügig nach der Tat - am besten innerhalb eines Tages - ein teilnehmendes Klinikum (in Bielefeld sind das: Klinikum Bielefeld Mitte, Evangelisches Krankenhaus Gilead 1, Franziskus Hospital) aufsucht und die professionelle Beweissicherung vornehmen lässt, denn Spuren verschwinden in der Regel sehr schnell (bei K.O.-Tropfen z.B. innerhalb von 12 Stunden). Im Regelfall dauert die Beweissicherung etwa eine Stunde. Hilfreich ist es, wenn zusätzlich die Kleidung – ungewaschen, ungewechselt und möglichst unberührt - mitgebracht wird. Anschließend werden die gewonnenen Spuren für ein mögliches Verfahren sicher verwahrt. In Bielefeld geschieht dies für zwei Jahre, in anderen Kliniken oftmals noch länger (bis max. 20 Jahre). Die Spurensicherung ist in Bielefeld kostenlos möglich. An anderen Standorten können gegebenenfalls Kosten entstehen. Sie können sich am jeweiligen Standort über etwaige Kosten informieren.
Entscheiden Sie sich später dafür, eine Anzeige zu erstatten, so werden die Beweismittel an die Polizei und Staatsanwaltschaft übergeben, die sie im Prozess gegen den Täter / die Täterin juristisch verwerten. Mit diesen handfesteren Beweisen ist eine Verurteilung des Täters / der Täterin wahrscheinlicher. Sie können selbstverständlich, wenn Sie das möchten, bereits im Klinikum selbst um Anzeige bitten. Dann wird sich das Klinikum von sich aus an die Polizei wenden. Möchten Sie keine Anzeige erstatten, so werden die Proben nach der Aufbewahrungszeit vernichtet. Für die Entscheidungsfindung stehen Ihnen selbstverständlich diverse Hilfs- und Unterstützungsangebote zur Verfügung.
Eine anzeigenunabhängige Spurensicherung kommt übrigens keineswegs nur bei Sexualstraftaten in Betracht, sondern grundsätzlich bei allen Taten, die Spuren am oder im Körper hinterlassen, etwa auch bei (häuslicher) körperlicher Gewalt.