Ein unerwartet diskriminationsstarker Aspekt beim Vergleich zwischen der Gesprächen mit PatientInnen mit epileptischen und solchen mit nicht-epileptischen Anfällen ist, ob die PatientInnen überhaupt - und ggf. wie schnell - selbst auf ihre Anfälle zu sprechen kommen.
Deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zeigen sich im Hinblick auf Fokussierung und Schilderung des eigentlichen Anfallsgeschehens: Die untersuchten PatientInnen mit Epilepsie fokussieren ihre Anfallsverläufe durchgängig selbst, und sie gehen auch selbstinitiiert oder aber nach einer unspezifischen Fokussierung durch den Arzt sehr prompt zu deren Beschreibung über; sie liefern (sehr) detaillierte und intensive Schilderungen, initiieren im weiteren Gespräch oft selbst neue Beschreibungsdurchgänge und/oder bringen neue Details zu Symptomen und Abläufen.
Die PatientInnen mit nicht-epileptischen/dissoziativen Anfällen hingegen liefern Anfallsbeschreibungen eher fremdinitiiert und manchmal erst nach wiederholter Aufforderung. Dann geben sie meist nur summarische Beschreibungen. Insgesamt lässt das Gesprächsverhalten bei den Epilepsie- im Vergleich zu den Dissoziations-PatientInnen eine hohe anfallsbezogene Mitteilungsbereitschaft erkennen.
PatientInnen beider Gruppen rekonstruieren singuläre Anfallsereignisse überwiegend erst auf eine Fremdinitiierung im weiten Sinne hin (d.h. nach einem vorausgehenden Gesprächszug des Arztes, der durch den Gesprächsleitfaden vorgegeben ist). Dennoch zeigt sich hier ein deutlicher Unterschied: Epilepsie-PatientInnen reagieren auch auf sehr vage und unspezifische Thematisierungen singulärer Ereignisse seitens des Arztes äußerst prompt und bereitwillig mit einer detaillierten Rekonstruktion entsprechender Anfallsepisoden. Die PatientInnen mit dissoziativen Anfällen hingegen reagieren in der Regel erst auf wiederholte Erzählaufforderungen mit einer Narration; häufig schildern sie eher sich wiederholende Abläufe als einzelne Episoden oder beschränken sich auf einen kurzen Hinweis auf ein entsprechendes Ereignis.
Ob die PatientInnen in der Beschreibung ihrer Anfälle einen sich ereignenden Bewusstseinsverlust darstellen, ist an sich nicht distinktiv, da dies PatientInnen aller Krankheitsgruppen tun. Durch eine Aufschlüsselung dieser Kategorie werden aber deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen erkennbar.
So ist eine Gleichsetzung von Anfall und Bewusstseinslücke eher typisch für PatientInnen mit dissoziativen Anfällen, während die epileptischen PatientInnen den Bewusstseinsverlust eher als Teil eines Gesamtgeschehens darstellen. Diese PatientInnen tendieren dazu, die Bewusstseinslücke und das, was dabei mit ihnen und auch um sie herum geschieht, detailliert zu schildern, indem sie sich z.B. auf Zeugenaussagen beziehen. Dissoziierende PatientInnen hingegen neigen fast ausnahmslos zu einer "holistischen", eher benennenden als detaillierten Darstellung von Bewusstseinslücken, wobei auch die verwendeten Begriffe das eigene Nicht-Mitbekommen und Nicht-Wissen oder insgesamt ein "Nichts" ("Blackout", "abgeschaltet") benennen.
Ein sehr deutlicher Unterschied liegt in dem durch die Darstellungen konstituierten Gesamteindruck: Typisch für PatientInnen mit dissoziativen Anfällen ist, dass durch die Art der Darstellung die eigene Bewusstseinslücke stark betont und weit nach vorn gestellt wird als das wichtige, den Anfall eigentlich ausmachende Element. Dies ist bei epileptischen PatientInnen nicht der Fall. So ist beispielsweise auch eine aus der Darstellung entstehende Unklarheit seitens des Gesprächspartners darüber, ob eine Bewusstseinslücke vorliegt oder nicht, in Gesprächen mit diesen PatientInnen gelegentlich zu beobachten, während sie in solchen mit PatientInnen mit dissoziativen Störungen nie vorkommt (ausführlicher dazu Furchner 2002).
Vorgefühle sind ein wichtiger Bereich, weil in der Epileptologie Auren als distinktiv für epileptische Anfälle gelten, andererseits aber Vorzeichen auch von PatientInnen mit dissoziativen Anfallsleiden erwähnt werden. Sequenzielle Darstellungen von Vorgefühlen finden sich in unserem Material indessen nur bei PatientInnen mit fokalen epileptischen Anfällen.
Vorgefühle sind weiterhin im Zusammenhang mit Anfallsunterbrechungstechniken interessant, denn dafür muss sich den PatientInnen ja zunächst ein nahender Anfall irgendwie ankündigen. Es hat sich - zunächst eher zufällig - gezeigt, dass solche Techniken der Anfallsunterbrechung von Epilepsie-PatientInnen häufig, von dissoziierenden PatientInnen hingegen fast nie spontan thematisiert und geschildert werden. Wenn Letztere überhaupt von sich aus auf die Frage der Unterbrechungsmöglichkeiten zu sprechen kommen, dann meist mit der Mitteilung, dass sie gegen die Anfälle nichts ausrichten können.
Im Hinblick auf diese Kategorie ergibt sich eine Ausdifferenzierung durch die Aspekte, ob die PatientInnen - von sich aus oder auf Anfrage - verschiedene Typen oder Verlaufsformen von Anfällen unterscheiden, ob sie eine solche subjektive Typologie explizit ausführen oder implizit vermitteln und ob bestimmte Begriffe oder Metaphern(-systeme) im Gesprächsverlauf stabil und konsistent sind oder Brüche aufweisen, wie wir es bei mehreren Dissoziations-PatientInnen nachweisen konnten.
Bei der Auswertung der Transkripte nach Anliegen und Themen wird differenziert zwischen den deklarierten Erwartungen der Patienten, die auf die initiale ‚Erwartungsfrage’ geäußert werden, den im Verlauf des Gesprächs (implizit) mitkommunizierten Anliegen der Patienten und schließlich den relevant gesetzten Themen.
Als differenzialdiagnostisch nicht relevant erwies sich entgegen unseren ersten Eindrücken die Unterscheidung zwischen Erwartungen, die als selbstbestimmt, und solchen, die als fremdbestimmt in das Gespräch eingebracht werden.
Deutlich verschieden sind die Auswertungsergebnisse hinsichtlich der bearbeiteten ‚Themen’: Bei Patienten mit fokalen Epilepsien kommt in der meist selbstinitiierten Thematisierung anfallsbezogener Aspekte eine aktive und zielorientierte Auseinandersetzung mit den Anfällen zum Ausdruck. Demgegenüber stellt sich bei Patienten mit dissoziativen Anfällen eine schwierige bzw. ganz fehlende Auseinandersetzung mit den eigenen Anfällen dar; vielfach wird schwere Erinnerbarkeit betont und die Auseinandersetzung mit anfallsbezogenen Aspekten zurückgewiesen. Kontrastierend zum meist nur fremdinitiierten In-Gang-kommen von Anfallsdarstellungen ist die Beobachtung dann regelhaft selbstinitiierten Betonens von Bewusstseinslücken durch dissoziierende Patienten.
Ein in der von uns angewandten Methode der die Redeunterbrechungen messenden und in Sekundeneinheiten notierenden Fein-Transkription erstelltes Material bietet besondere Voraussetzungen zu Untersuchungen der interaktiven und auch der eventuell semantischen Funktionen von Pausen.
Bereits bei den ersten Einzelfallanalysen war bei dissoziierenden Patienten eine Tendenz zu häufigeren und längeren Pausen aufgefallen. Beim quantitativen Vergleich der (zwischen 35 und 70 Transkript-Zeilen umfassenden) Initialphasen von bislang sieben mit Epilepsie- und sechs mit Dissoziations-Patienten geführten Gesprächen zeigte sich ein statistisch signifikant (p < .05) häufigeres Auftreten von mehr als sieben Sekunden langen Pausen bei den dissoziierenden Patienten. Dieser Befund steht vermutlich in einem Zusammenhang mit anderen Hinweisen auf Tendenzen zur Abtretung von Gesprächsinitiativen in der Dissoziations-Gruppe wie insbesondere ihrer geringen Neigung zur Selbstinitiierung bzw. der Überlassung von Gesprächsinitiativen zu anfallsbezogenen Mitteilungen und vielleicht auch ihrer Fokussierungs-resistenz.
Beobachtungen zur Formulierungsarbeit anfallskranker Patienten und Hypothesen zu deren differenzialdiagnostischer Relevanz bildeten die Grundlage für die Konzeption des vorliegenden Forschungsprojekts. Intensive Arbeit an der Formulierung bei der Darstellung von Auren und Anfällen mit Reformulierungen, Abbrüchen, Neuansätzen, Selbstkorrekturen, Konstruktionswechseln hat sich schon früh bei der Analyse von Gesprächstranksripten als typisch für PatientInnen mit epileptischen Anfällen erwiesen.
Reformulierungen, oft auch Aneinanderreihung von Reformulierungen zu Reformulierungsketten oder mehrere ineinander eingebettete Reformulierungen, sind charakteristisch ist für Patienten mit epileptischen (vor allem fokalen) Anfällen, während Patienten mit nicht-epileptischen Anfällen im Allgemeinen wenig oder gar nicht reformulieren. In dem Bereich sind allerdings vermutlich noch einige Differenzierungen und Präzisierungen möglich. Bei den Reformulierungen ist sehr genau auf den Gegenstand der Reformulierungstätigkeit zu achten: Patienten mit Epilepsien reformulieren vorwiegend die Anfallssymptome und -empfindungen, Patienten mit dissoziativen Anfällen verwenden dieses Mittel allenfalls beim Sprechen über andere Themen, z.B. situative Details, die bisherige Behandlung, Reaktionen Dritter etc.
Metadiskursive Kommentare zur 'Unbeschreibbarkeit' oder zur schweren Beschreibbarkeit von Anfallserlebnissen gehören zu den auffälligsten Merkmalen von Anfallsdarstellungen durch Patienten. Sie sind auch in der epileptologischen Literatur bereits thematisiert worden. Schon die ersten Transkriptanalysen haben gezeigt, dass solche Kommentare häufig im Kontext anderer Verfahren wie z.B. Reformulierungen oder Veranschaulichungen, die hohen Formulierungsaufwand dokumentieren, auftreten. Detailliertere Untersuchungen der metadiskursiven Kommentare selbst sowie der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Darstellungs- und Formulierungsverfahren zeigen, dass PatientInnen ihren Anfallserlebnissen ganz unterschiedliche Grade schwerer Beschreibbarkeit verleihen. Dabei ist die Darstellung schwerer Beschreibbarkeit nicht an solche metadiskursiven Kommentare gebunden; sie kann auch ausschließlich mit anderen Mitteln erfolgen. Die metadiskursiven Kommentare haben vor allem die grundlegende Funktion, die Aufmerksamkeit auf die Formulierungstätigkeit zu lenken, die somit als eine schwierige, Aufwand erfordernde Aufgabe dargestellt wird. Darüber hinaus können sie aber verschiedene Funktionen wahrnehmen: Sie können zum einen zur Einleitung immer wieder neuer Beschreibungsversuche dienen und somit auch ein Mittel zur Relevant-Setzung dieser Beschreibungen sein - das ist im Wesentlichen bei Epilepsie-Patienten der Fall; zum anderen können sie auch vom Abbruch der Äußerung, u.U. auch von Schweigen gefolgt sein und somit eine Kapitulation vor der Schwierigkeit der Aufgabe anzeigen - das findet man eher bei dissoziativen Patienten.
Darüber hinaus machen die Analysen deutlich, dass das schwer Beschreibbare zugleich auch das dem Gesprächspartner nur schwer oder gar nicht Vermittelbare ist; damit wird die Darstellung von ‚Unbeschreibbarkeit’ auch in einen Zusammenhang mit der Konstitution des Selbstbilds des Patienten, seiner Sicht der ‚Anderen’ und des Fremdbildes, mit dem er durch andere konfrontiert wird, gebracht.
Schließlich zeigen sich deutliche Unterschiede darin, wie die PatientInnen die schwere Beschreibbarkeit ihrer Anfälle darstellen: eher durch immer neue Beschreibungsversuche, die aber in sich geschlossen, kohärent und glatt formuliert sind, oder eher durch eine massive Häufung von Zögerungen, Vagheitsindikatoren, Satzabbrüchen u.ä. in den Beschreibungsversuchen, mit denen die Schwierigkeit sprachlich "inszeniert" wird. Es zeichnen sich geradezu unterschiedliche Darstellungsweisen von Unbeschreibbarkeit ab. (Die Thematik der Unbeschreibbarkeit wird ausführlich behandelt in Gülich/Furchner 2002 und Gülich 2005)
Die Relevanz von ‚Veranschaulichungsverfahren’, insbesondere Metaphern und metaphorische Konzeptualisierungen, hat sich im Laufe der Projektarbeit sehr stark entwickelt. Zwar war in den Anfallsbeschreibungen mancher PatientInnen schon früh der intensive Gebrauch von metaphorischen Wendungen und Vergleichen aufgefallen (vgl. etwa das in Wolf/Schöndienst/Gülich 2000 analysierte Beispiel), aber die Verwendung bestimmter Bildbereiche oder die Neigung zu metaphorischen Ausdrücken an sich erwies sich differenzialdiagnostisch nicht als fruchtbar. Geht man jedoch dazu über, nicht die einzelnen Metaphern, sondern die Metaphernsysteme und die diesen zugrunde liegenden "Konzepte" (Lakoff/Johnson) zu betrachten, ergibt sich, dass Patienten mit einer fokalen Epilepsie ihre Anfälle durchweg sehr deutlich konzeptualisieren, und zwar meist als eine von außen kommende und eigenständig und dynamisch agierende Entität, der sie sich aktiv (kämpfend) entgegen stellen (vgl. Surmann 2002 und 2005;). Patienten mit dissoziativen Anfällen hingegen konzeptualisieren ihre Anfälle in wesentlich geringerem Maße, die verwendeten Metaphern verdichten sich nicht zu einem vorherrschenden Metaphernsystem, sondern weisen im Gegenteil Brüche auf; eine Konzeptualisierung des Anfalls als dynamisch und von außen kommende Entität tritt in keinem untersuchten Fall ähnlich prägnant hervor wie bei den analysierten Schilderungen fokal epileptisch erkrankter Patienten.
Nachdem bereits in ersten Transkripten dissoziierender Patienten ein zum Teil geradezu spektakulär ausgiebiger Gebrauch von Negationen aufgefallen war, haben wir diese Beobachtung in der Weise einer quantitativen Überprüfung unterzogen, dass wir sämtliche von den Patienten vorgenommenen Negationen innerhalb der zwischen der initialen Erwartungsfrage und der ersten thematischen Initiative des Interviewers sich erstreckenden Gesprächsphase (zwischen 35 und 60 Transkript-Zeilen) extrahiert haben und so eine ,Verneinungsdichte’ pro Transkriptzeile bestimmen konnten, die mit einem Durchschnittswert von 0.26 bei den disso-ziierenden Patienten gegenüber einem Durchschnittswert von 0.037 bei den Epilepsiepatienten hoch signifikant bei den ersteren erhöht war.
Der Rekurs auf vorgeformte Strukturen bei der Beschreibung nicht-epileptischer Anfälle war schon zu Beginn der Projektarbeit bei einigen Patienten mit nicht-epileptischen Anfällen aufgefallen, schien sich aber als differenzialdiagnostisch relevantes Kriterium zunächst nicht zu bestätigen. Erst im Zusammenhang mit der Arbeit der ZiF-Kooperationsgruppe "Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst" zeigte sich, dass Patienten sich bei der Darstellung von Panikattacken häufig an vorgeformten Strukturen orientieren. Dabei sind vor allem auch individuelle 'Modelle' zu berücksichtigen, die Patienten zur Lösung häufig wiederkehrender kommunikativer Aufgaben (wie bei der Beschreibung der Erkrankung im Arzt-Patient-Gespräch) entwickeln (vgl. dazu Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft 2007, Gülich 2007. Knerich 2012).