Prof. Dr. Rainer Schützeichel ist am 25. Oktober plötzlich und unerwartet im Alter von 65 Jahren verstorben. Damit verliert die Fakultät für Soziologie einen sowohl fachlich hoch geschätzten als auch im zwischenmenschlichen Kontakt großartigen Kollegen. Die Todesnachricht hat in der Fakultät Bestürzung und große Trauer ausgelöst.
Rainer Schützeichel lehrte seit 2013 Soziologische Theorie, Historische Soziologie, Wirtschaftssoziologie und Religionssoziologie an der Bielefelder Fakultät für Soziologie, die er schon kurz nach seiner Ankunft in Bielefeld als seine wissenschaftliche Heimat empfand – und die er in den folgenden Jahren wissenschaftlich wie persönlich maßgeblich bereicherte. Vor seinem Ruf nach Bielefeld wirkte Schützeichel seit 2000 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FernUniversität Hagen, wo er 2001 promoviert und 2011 habilitiert wurde. Zwischen 2005 und 2012 vertrat Schützeichel Professuren in Bielefeld, Bochum, Hagen, München (Nachfolge Ulrich Beck), Duisburg, Aachen und Koblenz-Landau.
Eine außerordentliche Auffassungsgabe und ein geradezu phänomenales Konzentrationsvermögen ermöglichten es Rainer Schützeichel, sich entgegen dem Trend zur Spezialisierung in heterogene Themen und Fragestellungen einzudenken, die jeweiligen Forschungslagen akribisch aufzuarbeiten und eigene profunde wissenschaftliche Beiträge zu liefern. 2007 gab er ein Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung heraus - das erste seiner Art im deutschsprachigen Raum, mit über 60 Einzelbeiträgen. Das von ihm edierte Handbuch Emotionen und Sozialtheorie (2006) trug dazu bei, das Konzept der Emotion, ursprünglich in der Psychologie und Philosophie beheimatet, auch in den Sozialwissenschaften zu verankern. Der Einführungsband Historische Soziologie (2004) arbeitete die deutsche Tradition und den aktuellen angloamerikanischen Forschungsstand auf und bildete eine wichtige Grundlage für die in den 2010er Jahren einsetzende Neubelebung der historischen Soziologie in Deutschland. Auf seine Initiative ging der 2015 gegründete Bielefelder Arbeitskreises Historische Soziologie und Prozessforschung zurück, der 2021/22 in den Arbeitskreis Historische Soziologie aufging. 2015 gab Rainer Schützeichel gemeinsam mit Stefan Jordan den Band Prozesse – Formen, Dynamiken, Erklärungen heraus, der eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme des Prozessbegriffs unternahm, und, nicht zuletzt in seinem eigenen Aufsatz, wichtige Gesichtspunkte zur weiterführenden Diskussion bot. Das Werk fand auch Aufmerksamkeit und Anerkennung in den Nachbarwissenschaften. In mehreren Aufsätzen befasste sich Rainer Schützeichel mit dem Thema Kirche und Religiosität, insbesondere damit, dass sich Religiosität zunehmend außerhalb der etablierten Kirchen entfalte. Seine letzte im Publikationsverzeichnis der Universität verzeichnete Veröffentlichung galt der Analyse historischer Differenzierungsprozesse in der Kirchenmusik mithilfe des Begriffs der Konfiguration musikalischer Welten. Ein aktuelles Forschungsprojekt befasst sich mit der Frage, wie sich Professionswissen, z.B. von Ärzten, Psychologen und Sozialpädagogen, angesichts der „Selbstexpertisierung“ der Klienten einerseits und der Transnationalisierung der Professionen andererseits verändert.
In all diesen und vielen anderen Forschungen spiegelt sich eine schier unerschöpfliche intellektuelle Neugier, die nach immer neuen Herausforderungen suchte. Als verbindendes Element von Schützeichels Arbeiten kann man seine besondere Aufmerksamkeit und Sensibilität für jeweils unterschiedliche Bedeutungsmuster und -nuancen von sozialwissenschaftlichen Grundbegriffen ausmachen wie Prozess, Relation, Situation, Feld, (soziale) Kausalitäten, Handeln, Kultur, Sinn, Konfiguration, Zeit und Wissen. Eine skrupulöse Reflexivität beim Gebrauch sozialwissenschaftlicher Grundbegriffe war ihm wichtig. Als Fernziel schwebte ihm eine Ontologie des Sozialen, eine grundlagentheoretische Neubestimmung der Sozialwissenschaften vor, die er nach seiner Emeritierung in einem dreibändigen Werk in Angriff nehmen wollte. Dass es hierzu nicht mehr kommen wird, muss als großer fachlicher Verlust gelten.
Ungeachtet seines umfangreichen Forschungspensums trat Rainer Schützeichel aber insbesondere auch als akademischer Lehrer in Erscheinung. Das Interesse an seinen Lehrveranstaltungen war so groß, dass seine Seminare bisweilen in Hörsälen stattfinden mussten. In der Ausbildung der Studierenden war ihm das Wecken fachlicher Neugier und Reflexivität ebenso wichtig wie die intellektuelle Persönlichkeitsbildung. Trotz seines ohnehin schon hohen Lehrdeputats – dessen Reduzierung er jüngst ablehnte – hat Rainer Schützeichel einen beträchtlichen Teil seiner Zeit und Energie der Diskussion, Beratung und Betreuung von Studierenden, ihrer Projekte und Abschlussarbeiten gewidmet. Die große Anerkennung, die er unter den Studierenden genoss, ist seinem besonderen Engagement in der Lehre und Betreuung sowie seiner Zugewandtheit zu den Belangen der Studierenden zu verdanken.
Unter den Fakultätskolleginnen und -kollegen war Rainer Schützeichel aufgrund sowohl seiner umfassenden Kompetenz und intellektuellen Präzision als auch seiner ausgleichenden Persönlichkeit und seiner außergewöhnlichen Hilfsbereitschaft sehr geschätzt und anerkannt. Aufgrund seiner mit Freundlichkeit und Fairness gepaarten fachlichen Autorität war seine Mitwirkung im Rahmen von Berufungskommissionen, Promotionen oder Habilitationen, aber auch in der fachlichen Beratung bei Forschungsvorhaben, überaus gefragt. Von 2015 bis 2022 fungierte er zudem als geschäftsführender Herausgeber der in Bielefeld erscheinenden Zeitschrift für Soziologie.
Zehn Jahre lang hat Rainer Schützeichel das Fakultätsleben maßgeblich mitgestaltet und mitgeprägt. Er war ein hervorragender Wissenschaftler und besonders leidenschaftlicher und engagierter akademischer Lehrer, der von Kolleginnen und Kollegen wie von Studierenden gleichermaßen hoch geschätzt und anerkannt wurde. Und er war ein in jeder Hinsicht wunderbarer Kollege und Mensch. Sein Tod ist ein schmerzlicher Verlust und hinterlässt eine große Lücke. Es war ein großes Glück, ihn zu kennen und mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. In großer Trauer und tiefer Dankbarkeit nehmen wir Abschied.